Heute möchte ich mich mal den Realismus in Werken der Fiktion widmen und zwar anhand des Beispiels von Fallout 4.
Warum Fallout 4?
Es vereint sowohl Stärken und Schwächen in seinem Weltaufbau und dient daher als gutes Beispiel. Achtung, es kommen Spoiler.
Warum dieser Artikel?
Immersion, also das Eintauchen in die Spielwelt, ist mir persönlich wichtig. Aber ich finde mich in Fallout 4 oft in aberwitzigen Szenarien wieder, die so Realitätsfern sind, dass ich nicht eintauchen kann.
Oft wird dann damit argumentiert dass es sich nur um ein Spiel handelt. Das kann das gar nicht und man sollte so etwas nicht erwarten. Oft wird dann auch gesagt: „Du achtest ja auch nicht darauf ob und wann eine Spielfigur auf Toilette geht.“
Das wird dann von der Gegenpartei als Totschlagargument verwendet um zu zeigen dass es so etwas wie Realismus in Videospielen, die ja auch nur ein weiteres Werk der Fiktion sind, nicht existieren kann.
Das ist meines Erachtens falsch!
Meines Erachtens besteht der Realismus in der Spielwelt auch darin eine innere Logik zu haben bzw. gewissen Regeln anhand des Szenarios zu folgen und damit innerhalb seiner eigenen Regeln plausibel zu bleiben.
Fallout 4 ist dahingehend ein sehr gutes Beispiel, da es ein sehr reales Szenario verwendet und zwar die nukleare Vernichtung oder beinahe Vernichtung einer Welt die unserer sehr ähnlich ist, aber nicht identisch.
Sprich wir befinden uns in einer post-apokalyptischen Welt wieder in der das Überleben an der Tagesordnung steht. Ein Szenario das uns auch in der echten Welt wiederfahren könnte.
Wo fangen wir an?
Am besten am Anfang von Fallout 4. Dort findet sich der Protagonist im nuklearen Krieg wieder und wird in eine Bunkeranlage gebracht. Kurz bevor sich der Bunker öffnet und man mittels Fahrstuhl hinabgefahren wird explodiert eine Atombombe wenige Kilometer von einem entfernt.
Im Grunde könnte man hier schon sagen: Game Over
Die reine Explosion, selbst wenn uns die Schockwelle noch nicht erreicht hat, lässt so viel Strahlung frei dass wir binnen weniger Tage an Strahlenkrankheit sterben würden. Aber gut, es ist ein Spiel und das Bild das man hier versucht zu liefern, das eine nukleare Explosion etwas sehr kraftvolles, mächtiges und zerstörerisches ist.
Lächerlicher wird es dann als uns die Druckwelle erreicht. Der Fahrstuhl ist sehr langsam und gerade als wir weniger als einem Meter unter der Erdoberfläche sind schießt die Druckwelle über uns drüber, wenige Zentimeter.
Auch hier könnte man wieder sagen: Game Over
Die Druckwelle würde sich auch unten in den Schacht ausbreiten und selbst wenn nicht, die Hitze der Explosion würde uns einfach rösten.
Natürlich dient dies alles zum Aufbau von Spannung und ist damit fern von jeder Realität. Aber hätte das seien müssen? Hätte es einen Weg gegeben das Szenario nahe an der Realität zu halten, es spannend zu gestalten und dennoch sicher unten im Bunker anzukommen?
Klare Antwort: Ja!
Schlussendlich hätte man es so gestalten können das wir schon zur Hälfte im Fahrstuhlschacht sind als wir die nukleare Explosion erleben. Sprich die Druckwelle trifft uns wenn wir schon zur Hälfte im Erdboden sind.
Als nächstes trifft uns die Schockwelle über den verschlossenen Schacht und wir hören wie es am Schott kratzt, ratscht, pfeift und grollt.
Dann trifft uns eine Untergrundschockwelle, denn eine nukleare Explosion dieser Größe löst auch kleinere und größere Erdbeben aus. Die Passagiere im Fahrstuhl werden durchgerüttelt. Der Fahrstuhl befindet sich für einen kurzen Moment im freien Fall und dann verkantet sich dieser.
Wir werden durch die Wucht zu Boden geschleudert.
Und auf einmal fallen große und kleine Metallteile die sich aus der Fahrstuhlkonstruktion gelöst haben auf die Passagiere herab und erschlagen einige von diesen.
Der Fahrstuhl ist Dunkel. Es grollt noch immer. Man hört nur noch das Pfeifen des Sturms der an dem Schott rüttelt. Jemand weint. Andere wimmern vor Schmerzen. Die Notbeleuchtung springt an und färbt alles in Rot. Wir müssen den spärlich beleuchteten Notstieg verwenden um in die Bunkeranlage zu gelangen. Hinab in eine ungewisse Zukunft.
Schon am Anfang versagt?
Sprich wir haben hier schon zwei Ereignisse ganz am Anfang der Geschichte von Fallout 4 die so nicht passieren können, allerdings sind sie relativ gut umgesetzt und brechen so nicht die Immersion.
Im englischen wird das auch „suspension of disbelief“ genannt. Sprich wir setzen unseren Unglauben über ein bestimmtes Szenario aus und geben uns diesem hin, da wir davon sehr angetan sind und es uns etwas dafür gibt. Im Falle von Fallout 4 ein paar coole Momente bzw. einen Plot-Hook um zu sehen wie die Geschichte sich entwickelt.
Und so ist das bei Fallout 4 häufig. Es gibt oft verschiedene Szenarien die sehr realitätsfern sind, aber dennoch diese „suspension of disbelief“ nicht brechen, weil sie uns neue Interessante Szenarien offenbaren und uns irgendwie in dem Bann der Welt hält.
In Fallout 4 geht es aber auch anders. Denn es gibt auch hier viele verschiedene Szenarien die einfach mit dem Realismus brechen.
Zum Beispiel fällt das gesamte Setting von Fallout 4 flach auf die Schnauze sobald uns im Spiel mitgeteilt wird das wir über 210 Jahre nach der Apokalypse spielen und noch alles so aussieht als sei der Einschlag der Bomben 10-30 Jahre her.
Fauna Top, Flora Flop?
Alles ist ein Ödland aufgrund der Strahlung. Verdorrte Bäume und vertrocknetes Gras. Das seltsame ist. Die Pflanzenwelt ist fast Tod, aber der Tierwelt geht es super. Diese ist zwar etwas mutiert und aggressiver als vorher aber diese gibt es noch.
So haben wir hier gigantische Blähfliegen, doppelköpfige Hirsche, gigantische Skorpione, Mirelurks, etc.
Die Frage ist: Wenn fast alle Pflanzen Tod sind, von was ernähren sich dann Insekten und mutierte Tiere? Wo ist da das Kreislaufsystem?
Jetzt werden einige wieder kommen und sagen: Das muss nicht realistisch sein, wäre auch nicht möglich du Depp!
Tatsache ist aber es wäre möglich es realistisch und vor allem interessant und vielfältig zu halten. Nach 210 Jahren muss sich die Natur erholt haben. Strahlung behindert nicht mal wirklich das Pflanzenwachstum.
Tschernobyl und auch einige der Inseln (die halt noch stehen und kein riesiger Krater im Meer sind) auf denen Atombombentest stattgefunden haben belegen das. Dort hat sich die Pflanzenwelt erholt.
Die Inseln sind stark Radioaktiv aber das hat den Pflanzen kaum was getan. Genauso wie in Tschernobyl. Dort sind die Pflanzen nicht eingegangen, das ganze gleicht eher einem Naturschutzgebiet das unberührt vom Menschen ist.
Auch hätte man sich die Stadt Prypjat die aufgrund des nuklearen Zwischenfalls verlassen ist und seit Jahrzehnten leer steht als Beispiel für Fallout 4 nehmen können. Hier grünt auch alles.
Sprich, man hätte die Stadtgebiete von Fallout 4 wesentlich grüner gestalten können, vor allem aufgrund der Möglichkeit von Mutationen. Das driftet wieder weg vom Realismus und in die Fiktion rein, aber wenn man schon mutierte Hirsche usw. hat dann hätte man auch gefährliche mutierte Pflanzen einbauen können.
Ist die Menschheit zu faul?
Vor allem hätte das erklärt warum nach 210 Jahren die Menschheit noch immer nicht aus dem Quark gekommen ist. Zum Beispiel ist die Stadt Diamond City über 150 Jahre alt und die Leute dort leben immer noch im Dreck. Das macht keinen Sinn.
Es ist irgendwie klar das durch die üblichen Bedrohungen und Lebenssituationen die Menschheit eher klein gehalten wird und sich daher in einem Baseballstadion verschanzt hat macht durchaus Sinn da es einen gewissen Schutz bietet.
Es macht aber keinen Sinn nach über 150 Jahren immer noch in Baracken zu wohnen. Man könnte jetzt argumentieren dass die Menschheit auch einen Großteil ihres Wissens verloren hat und daher nicht mehr weiß wie man das richtig zusammenbaut, aber die Leute wissen wie man intelligente Roboter repariert und auch baut, wie man Stimpacks herstellt (ein Wunderheilmittel das selbst gebrochene Knochen innerhalb von Sekunden heilt) und sogar Anti-Strahlungsmedikamente herstellt.
Es macht einfach keinen Sinn!
Das Bildungsniveau ist so enorm hoch das es keinen Sinn macht dass die Menschen in behelfsmäßigen Barracken hausen, Probleme mit Strahlung haben oder Angst haben müssen an einer Verletzung zu sterben.
Sprich der Realismus im Setting von Fallout 4 ist ab einem gewissen Punkt nicht mehr existent und das spiegelt sich auch in verschiedenen Spielmechaniken wieder. Wir können an einer Kochstation Lebensmittel herstellen und verfeinern sodass wir nicht mehr verstrahlt werden wenn wir diese Essen, das macht durchaus Sinn zu wissen welche Teile besser verwertbar sind als andere.
Das Problem ist das die Nahrung nur eine weitere Form von Heilung ist. Sprich der Charakter hat defakto niemals Hunger. In einer Post-Apokalypse wo Nahrung, Wasser und sonstige Rohstoffe rar sind eigentlich ein Unding.
An einer anderen Station können wir Stimpacks und RadX herstellen und das nicht zu knapp. Und es ist nicht so das wir das irgendwie lernen müssen. Wir kloppen einfach ein paar Pflanzen zusammen und können das.
Selbst das bauen einer Siedlung ist fernab der Realität. Es ist nicht nur ein sehr flaches und schlecht umgesetztes Bausystem an sich selbst, aber es macht auch im Angesicht des Realismus keinen Sinn.
Energie gewinnen wir durch Dieselgeneratoren. Schlimm ist noch nicht das es eigentlich keine Dieselgeneratoren so in Fallout 4 geben kann weil selbst Autos mit einem Fusions-/Kernreaktor bestückt sind sondern das der Dieselgenerator nach Fertigstellung unendlich viel Diesel hat. Sprich wir müssen ihn niemals nachfüllen.
Wenn man nun bedenkt das wir schon fast regelmäßig über 200 Jahre alte Fusionskerne findet um die Powerrüstung zu betreiben anstatt sie unserer Siedlung zukommen zu lassen muss man sich schon fragen: Wieso hat keiner der Entwickler daran gedacht das wir die nicht für unsere Siedlung verwenden dürfen?
Fallout 4, kein Einzelfall
Seltsamerweise ist das in Videospielen keine Seltenheit. Oft wird dann damit argumentiert das Videospiele das nicht können. Ich halte das wie gesagt für ausgemachten Schwachsinn. Klar sind in Videospielen die interaktiven Mechaniken wichtig, aber die Welt, wie im Beispiel von Fallout 4, gänzlich zu ignorieren und es nur als „Anstrich“ für die Spielmechaniken zu verwenden, gerade bei einem ROLLENSPIEL ist eine große Verfehlung von Bethesda, dem Entwickler.
Fallout 4 ignoriert dabei eine der wichtigsten Regeln: Das erzählen einer Geschichte. Es opfert konstant Realismus, Konsistenz und Kausalität für „Coole Momente“ nur um diese im Spiel zu haben.
Das passiert auch meines Erachtens zu oft in unserem Hobby, dem Pen&Paper Rollenspiel. Ich habe in der Vergangenheit schon oft erlebt das Spielleiter Realismus und Kausalität zugunsten von „coolen Momenten“ geopfert hat, sogar Spielregeln wurden extra für diesen einen Moment gebrochen nur damit es gepasst hat das diese Szene irgendwie in der Geschichte ist.
Aber warum ist Realismus nun wichtig?
Realismus, in seinen Grundzügen, gibt uns in den Werken der Fiktion etwas vertrautes. Leser, Zuschauer und Spieler wissen dann in den meisten Fällen schon wie die Grundzüge des Szenarios/der Welt aussehen und können sich schneller in diese einfinden.
Wichtig ist dann diese Grundzüge nicht zu verletzten. Im Beispiel von Fallout 4 bricht dieses eigentlich alle seine Grundzüge. Eine der wichtigen Aspekte der Post-Apokalypse ist nun einmal der Untergang der Menschheit, das Überleben und der Horror dass das alles nochmal passieren könnte.
Und was machen wir am Ende von Fallout 4? Egal in welcher Fraktion wir sind. Egal welches Ende. Schlussendlich zünden wir eine nukleare Bombe im Herzen von Boston wo viele Überlebende Hausen.
Aber vielleicht liege ich auch total daneben und Fallout 4 ist ein Meisterwerk. Ein totaler Genie-Streich.
Hi,
sehr schöner Artikel. Ich verstehe Deine Kritik sehr gut und könnte auch mitgehen zu sagen, dass sich die Entwickler/Designer mehr Mühe hätten geben können, damit die Dinge im Spiel Konsistenter erscheinen. Mich regt so was auch auf. Aber ich glaube, Du hast was wichtiges nicht Berücksichtigt. Fallout 4 ist nun nicht der erste Teil der Reihe. Bethesda wissen, was sie da tun und am Ende des Tages müssen sie Entwickler bezahlen und ein Produkt mit Gewinn verkaufen. Da kann oder will man es sich wohl schlicht nicht leisten für Realität und Logik Geld aufzuwenden. Wenn man im Glauben ist, dass die Spieler auch so zugreifen und die Verkaufszahlen am Ende stimmen, dann hat man aus wirtschaftlicher Sicht alles richtig gemacht. Aus künstlerischer vielleicht nicht unbedingt, aber wie Du schon selbst schreibst – die Welt ist dann wohl nur der Anstrich, nicht der Anspruch.
Es ist Bethesdas zweites Fallout Spiel nach Fallout 3. New Vegas war eine Auftragsarbeit von Obsidian Games. Und gerade bei einem Nachfolger hätte ich mich gefreut wenn man da mehr auf realitätsnähe und konsistente Story gesetzt hat.
Natürlich war Fallout 4 ein finanzieller Erfolg und gerade wenn man auf das Investment schaut das solche großen Projekte mit sich bringen ist das schon Inordnung. Nur glaube ich auch das Bethesda sehr Faul wird.
Schauen wir nämlich mal weg von konsistent der Spielwelt und Geschichte so läuft das Spiel technisch nicht wirklich gut. Es gibt regelmäßig Leistungseinbrüche. Wer einen teuren PC sein eigen nennen darf konnte das Spiel aufgrund einer FPS Begrenzung kurzzeitig gar nicht spielen. Der PC-Port war sogut wie nicht existent und die UIs waren wieder sehr schlecht. Und gerade die Siedlungsquests waren ebenfalls nicht pralle.
Natürlich hat das Spiel auch gutes. Ich fand es irgendwie cool das man sehr früh die Powerarmor hatte, das Waffenbausystem war toll und die Grundidee von Siedlungssystem war gut, wenn auch nicht ausgereift und es gab viel zu sehen.
Nur will ich ehrlich sein: Von einem Tripple-A Studio das ca. 750 Millionen Dollar wieder verdient (mit 12 Millionen verkauften Kopien) erwarte ich ehrlich gesagt mehr. Vor allem da man sich hier auch wieder ganz schön krass auf die Modder stützt um für die Langlebigkeit des Produktes zu sorgen (extra content) und anscheinend damit beginnt Bugfixes dort auszulagert.